12. Mai 2010

Publikationsliste (Print)

Links zu Online-Veröffentlichungen und anderen Texten unter BarbaraJScheuermann.blogspot.com.

Narreme, Leerstellen, Stimuli – Narrativität in Arbeiten von Jeff Wall und Gregory Crewdson (Arbeitstitel), in: Inszenierung, Fiktion, Narration – Begriffsnavigationen im Feld des Fotografischen, Tagungsband, hg. von Lars Blunck, TU Berlin 2010 (in Vorbereitung)

A Thin Line, in: Take on Art (Delhi) #2, Juli 2010

It's all about trees, in: (H)Art (Antwerpen), June 2010, S. 17 

Durst nach Diskurs. Über Indiens Kunstszene, in: Kunstzeitung 165, Mai 2010, S. 28

We’ve come to scream in the happy house, Einführungsessay in: Happy House oder Kleine Reparatur der Welt, Kat. KIT, Düsseldorf 2010

Hamra Abbas' Paper Collages, in: Hamra Abbas. Object Lessons, Kat. Green Cardamom London, London 2009

Sabine Kacunko: Dried-Up Sea, Kat. veröffentlicht anlässlich der gleichnamigen Ausstellung bei Platform China, Contemporary Art Institute in Beijing, Peking, Oktober 2009

Werktexte zu Allan Gretzki, Tobias Hahn, Erika Hock, Dino Korati, Alwin Lay, Silvia Ospina, Jens Pecho, Andrey Ustinov, in: Lido 10. Along the Rhine, begleitende Publikation zur gleichnamigen Ausstellung des KIT (Kunst im Tunnel), Düsseldorf, hg. von Gertrud Peters, Düsseldorf 2009

Martina Thalhofers fotografische Objekte, in: Martina Thalhofer. In Your Eyes Only, Kat. veröffentlicht anlässlich der Ausstellung in der Kleinen Orangerie, Villa Oppenheim, Berlin 2009, S. 6f.

Do we still need feminist art?, in: (H)Art (Antwerpen), # 49, Juli 2009, S. 13

Vom Narrativ(ier)en im Werk von Anja Ciupka oder: Was wäre wenn?, in Anja Ciupka, Kat. Kunstverein Arnsberg 2009, S. 31 – 47

Through the Peephole – How to approach Non-Western Art, in: (H)Art (Antwerpen), # 44, Dezember 2008, S. 17

Fotografie/Photography, in: Katalog/Catalogue Artrmx Cologne Vol. 1, hg. Von artrmx e.V., Köln 2009, S. 12 f.

Martin Werthmann, in: Kat. Martin Werthmann, Hochschule der Bildenden Künste, Hamburg 2009

Recently Seen and Admired Hamra Abbas, Eli Cortiñas Hidalgo, K8 Hardy, Freya Hattenberger, Kat. Galerie Kunstagenten, Berlin 2009 (in Vorbereitung)

William Kentridge, Tide Table, in: Überleben in zukünftiger Vergangenheit, Erwerbungen 1990 – 2007. Armin Zweite und die Kunstsammlung Nordrhein-Westfalen, hrsg. von Julian Heynen und Pia Müller-Tamm, K20 K21 Kunstsammlung Nordrhein-Westfalen, Düsseldorf 2008

Yury Kharchenko, in: Yury Kharchenko, Kat. Galerie Otto Schweins, Köln 2008

Talking Pictures, hg. von Barbara J. Scheuermann und Doris Krystof, Kat.. K21 Kunstsammlung Nordrhein-Westfalen, Düsseldorf 2007, darin: Show and Tell. Einige Überlegungen zum Erzählen in zeitbasierten Kunstwerken, und Künstlertexte zu Viktor Alimpiev, Danica Dakić, Markus Schinwald, Gillian Wearing und T.J. Wilcox.

Autorenseite auf artnet.de: Ausstellungskritiken, Interviews und Kommentare 2005-2007

Künstlertexte Andreas Gursky, Claus Föttinger, in: Monkey's South, Wine & Dine, Düsseldorf 2006

Künstlertexte Nam June Paik, Thomas Struth, Jörg Immendorff, in: Monkey's West, Fine Art Dining, Düsseldorf 2006

Werkkommentare (mit Valeria Liebermann), in: Juan Muñoz – Rooms of My Mind, Kat. K21 Kunstsammlung Nordrhein-Westfalen, Düsseldorf 2006

Begleitheft (mit Dörte Dennemann, Johannes Schmidt) zur Ausstellung „40JahreVideokunst.de“, K21 Kunstsammlung Nordrhein-Westfalen, Düsseldorf 2006

Erzählstrategien in der zeitgenössischen Kunst. Narrativität in Werken von William Kentridge und Tracey Emin, Diss. Köln 2006

Werkkommentare, in: Stories. Erzählstrukturen in der zeitgenössischen Kunst, Kat. Haus der Kunst, München 2002

Redaktion für das Begleitheft zur Ausstellung „Stories. Erzählstrukturen in der zeitgenössischen Kunst“, Haus der Kunst, München 2002

Ulrike Kessl, Arbeiten für ein verstecktes Kind, Kat. Museum Folkwang im RWE-Turm, Essen 2001 (Redaktionelle Mitarbeit und Lektorat (mit E. Knobloch))

Julian Opie – You get what you see, in: Ich ist etwas Anderes, Kat. Kunstsammlung Nordrhein-Westfalen,  Düsseldorf 2000, S. 250-251

Christian Boltanski, Inventar der Objekte, die einer Frau aus Ludwigshafen gehört haben (Fotos, gemeinsam mit Marietta Clages), publiziert anlässlich der Ausstellung „Ich ist etwas Anderes“, Düsseldorf 2000

Ausstellungskritiken und andere Texte in: Kunstzeitung, (H)Art, Informationsdienst Kunst, Take on Art, artnet.de, Kölner Stadtanzeiger, INTRO et al. 

Stand Juli 2010
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15. Januar 2010

We’ve come to scream in the happy house

abgedruckt in LIDO 11, Düsseldorf 2010, anlässlich der Ausstellung "Happy House oder Kleine Reparatur der Welt", in KIT, 21.11.2009 - 31.01.2010

Für jegliche auch nur in geringstem Maße politisch ausgerichtete Kunst waren im letzten Jahrzehnt „Globalisierung“ und „Migration“ zentrale Begriffe – beide bezeichnen Entwicklungen, die jeden von uns auf vielerlei Weise betreffen und unser Leben beziehungsweise unsere Perspektive auf die Welt beeinflussen und verändern. Eng mit diesen Phänomenen verknüpft sind die Begriffe von Zugehörigkeit und Heimat, die jedoch oftmals in den Hintergrund treten, obwohl ‚Heimat’ im weitesten Sinne zugleich als Ausgangspunkt und als Ziel aller menschlichen Bestrebungen gelten kann, denn ausnahmslos jeder muss seinen Platz in der Welt finden. Während Globalisierung und Migration jedoch stark politisch konnotiert sind, erscheint der untrennbar damit verknüpfte Begriff ‚Heimat’ zunächst als etwas Intuitives und Individuelles und entfaltet erst im soziokulturellen Diskurs seine politische Dimension.


Das Schillern vom Persönlichen ins Allgemeine

Für das Individuum bezeichnet Heimat – übrigens ein Begriff, der sich nur schwer und mit wesentlichen Bedeutungsveränderungen in andere Sprachen übersetzen lässt – normalerweise sowohl ein Gefühl von Verbundenheit oder Zugehörigkeit als auch einen mehr oder minder konkreten Ort, der häufig der Ort der Herkunft ist oder aber der Platz, an dem sich die nächststehenden Menschen befinden. So markiert das Wort ‚Heimat’ ein Spannungsfeld zwischen geographisch-konkret und intuitiv-abstrakt. Kaum ein anderer Begriff schillert in solchem Maße vom Persönlichen ins Allgemeine und nimmt so unterschiedliche Bedeutungen an, je nachdem von wem und in welchem Zusammenhang er verwendet wird.

So drehen sich die in der Ausstellung Happy House oder Kleine Reparatur der Welt“ gezeigten Arbeiten von Tolia Astakhishvili und Heike Gallmeier, Lucile Desamory, David Hahlbrock, Franka Kaßner, Ulrike Möschel, Jakub Nepras, Lukas Schmenger, Adriane Wachholz und James Webb um Konzepte von Heimat im weitesten Sinne – die Untersuchung von Orten, Räumen und Positionen sowie der an sie geknüpften Bedeutungen steht hier im Mittelpunkt. Steht jedem sein Platz in der Welt zu? Wann erleben wir eine Umgebung als feindlich, wann als freundlich? Wie kann man sich einen Raum zu eigen machen? Ist vor dem Hintergrund zunehmender Verflüchtigung von Sicherheit und Ortsbezug der Traum von Geborgenheit und Zugehörigkeit überhaupt noch angemessen? Ist es gar möglich, mit den Mitteln eines Künstlers die allgegenwärtigen Probleme der Gesellschaft und der Welt zu „reparieren“, wie es der Titel der Ausstellung nahe legt?

Die kleine Reparatur der Welt

„Kleine Reparatur der Welt“ geht auf den Titel der letzten Folge der tschechischen Science-Fiction-Serie „Die Besucher“ aus den frühen achtziger Jahren zurück. Die ganze Serie dreht sich um die Suche nach einer Formel, die für die Rettung der Erde und somit der Menschheit nötig ist. Im Jahr 2484 nämlich wird vom Zentraldenker (ZD) der Menschheit errechnet, dass die Erde durch ein rotierendes Nebelgebilde bedroht ist. Als Rettung soll eine inzwischen zerstörte Formel des Genies Adam Bernau beschafft werden, der diese als Schüler im Jahr 1984 entwickelt hatte, um Kontinente und sogar ganze Welten verschieben zu können. Ein Expeditionsteam unter der Leitung des Akademikers Filip reist mit einer Zeitmaschine 500 Jahre zurück in die Vergangenheit, um die Formel aufzuspüren und damit die Erde 2484 retten zu können. Zahlreiche Verwicklungen verhindern allerdings, dass die Zeitreisenden die Formel bekommen, und so müssen sie schließlich niedergeschlagen und mit leeren Händen nach Hause in ihre Zeit reisen. Herr Drchlik, der das Forscherteam aus dem Jahr 1984 zurück in die Zukunft begleitet hat, bemerkt nach seiner Ankunft im Jahr 2484, dass der Zentralcomputer ein wenig schief steht. Mit einem rasch angefertigten Holzklötzchen korrigiert er diese Schieflage. Daraufhin korrigiert der Zentralcomputer seine ursprüngliche Berechnung und siehe da: er stellt fest, dass die Erde zu keinem Zeitpunkt in Gefahr gewesen war.

Ein simples Stück Holz an die richtige Stelle geschoben, rückt das Weltbild also wieder gerade. Das ist wunderbar und simpel und bedeutet zugleich, dass das Scheitern der Mission gar keine Katastrophe war. Allerdings heißt es auch, dass alle vorhergehenden Bemühungen von vorneherein ganz und gar unnötig waren – aber was für eine großartige Geschichte sie ergeben haben! Und überhaupt: ohne sie hätte Herr Drchlik nicht aus der Vergangenheit mit in die Zukunft kommen und die Schieflage des Zentraldenkers bemerken können – also doch nicht alles umsonst!

Diese komplizierte Konstellation aus Ursache und Wirkung, Mittel und Gegenmittel, Erfolg und Scheitern kann nicht nur als eine tolle Story gelesen werden, sondern ganz nebenbei auch als ein Abbild der Situation, in der sich womöglich alle Menschen, aber besonders Künstler und Künstlerinnen heutzutage befinden: auf einer Mission, deren Erfolg – oder auch nur deren Sinn –niemand garantieren kann.


Das Unterleghölzchen

Um ihren Platz in der Welt zu finden, erproben Künstler verschiedenste Methoden. Immer wieder geht es in Werken, gerade von jungen Künstler, um den Versuch der Selbstvergewisserung und der Analyse eigener Positionen. Die Herausforderung scheint umso größer angesichts der Diversität und Unübersichtlichkeit unserer heutigen Welt. Wobei gerade vor dem Hintergrund der Geschichte um die kleine Reparatur der Welt und das Unterleghölzchen die Frage gestellt werden muss, ob sich unsere Welt tatsächlich so sehr verändert hat oder ob es nicht vielmehr unsere Perspektive ist, die sich gewandelt hat ­– zum Beispiel durch die modernen Kommunikationsmöglichkeiten, dank derer wir permanent informiert werden über das Weltgeschehen, zu dem die Menschen noch vor wenigen Jahrzehnten gar keinen Zugang hatten.

War die Welt mit all ihren Kulturen, Völkern, Religionen, Katastrophen und Kriegen denn nicht eigentlich schon immer viel zu komplex, um von irgendjemandem begriffen zu werden? Die heute so gerne gemachte Feststellung von der Unübersichtlichkeit und Schnelllebigkeit unserer Zeit erinnert doch gar zu sehr an das alle Epochen überdauernde Gerede von der guten alten Zeit, in der alles besser gewesen ist.

„Nur du bist du.“ stellt die Diät-Cola-Werbung einleuchtend fest, und gleichzeitig ist man „nicht bloß ein einzelner Mensch“, wie Theodor Fontane den Geheimrat Wüllersdorf in „Effi Briest“ konstatieren ließ. Zwischen diesen beiden Polen – dem Anspruch der individuellen Entfaltung und dem Anspruch der Gesellschaft an das Individuum (und womöglich auch zwischen zeitgenössischer Alltagskultur und mitteleuropäischem Bildungskanon) – gilt es sich als junger, in Deutschland lebender Künstler zu positionieren, um seine geistige und emotionale Heimat zu finden und die Welt – oder das Bild von ihr – zumindest vorübergehend wieder gerade zu rücken. An welche Stelle also soll das Unterleghölzchen in Form einer künstlerischen Idee geschoben werden, damit wieder alles ins Lot kommt – oder zumindest so aussieht, als wäre es wieder im Lot?

Das Medium spielt dabei eine untergeordnete Rolle – wir sind endgültig in den Zeiten angekommen, in denen Ideen über alle Gattungs- und Mediengrenzen hinweg verfolgt werden können –, es fällt jedoch auf, dass in diesem Zusammenhang besonders häufig auf die sogenannten neuen Medien zurückgegriffen wird. Offensichtlich herrscht so etwas wie weitgehende Übereinstimmung, dass sich mit video- und computerbasierten Bildern die Welt am ehesten angemessen darstellen lässt.

Wie auch in dieser Ausstellung ersichtlich, gibt es dabei drei grundlegende Vorgehensweisen, um sich der Frage nach der Platzierung des Unterleghölzchens zu nähern: die Untersuchung der eigenen Erscheinung in der Welt (im weitesten Sinne), die Erforschung des menschlichen Inneren sowie die Reflexion der als Lebensort vorgefundenen Welt, die es zu bewohnen gilt.


Das Bedürfnis nach Sichtbarkeit

Als eine der klassischen kunsthistorischen Untergattungen dient das Selbstportrait Künstlern traditionell zur Selbsterforschung und Positionsbestimmung. Auf keine andere Weise können Künstler derart eindrücklich ihre eigene Erscheinung ins Bild rücken und sowohl ihren Zeitgenossen als auch der Nachwelt nicht nur ihr Werk hinterlassen, sondern zugleich auch das Bild seines Schöpfers und damit die Erinnerung an sie selbst. Diese Tradition reicht Jahrhunderte und Jahrtausende zurück und bildet – besonders schön zum Beispiel in den Selbstdarstellungen von Baumeistern als Kapitellfiguren in mittelalterlichen Kirchen – das menschliche Bedürfnis ab sich selbst sichtbar in der (Nach-)Welt zu machen.

Unter den hier ausgestellten Künstlern ist Lukas Schmenger der einzige, der sich dezidiert der Auseinandersetzung mit dem eigenen Abbild widmet, mit der Darstellung der Persona, und damit auch mit der schon von vielen Künstlern erforschten und immer noch aktuellen Frage danach, ob und wie sich in einem Abbild eines Menschen dessen Inneres, seine Persönlichkeit und Seele, darstellen lässt. Der Künstler liefert sich den Betrachtern damit gleichsam aus und überlässt es ihnen, Schlüsse über seinen Charakter und sein Erscheinungsbild zu ziehen. Wieviel gibt der Künstler hier tatsächlich von sich zu erkennen? Was sagt das über seinen Platz in der Welt aus, und in welchem Verhältnis stehen wir zu ihm?


Der Zusammenprall mit dem Unbewussten

„Die Erinnerung an die äußeren Fakten meines Lebens ist mir zum größten Teil verblasst oder entschwunden. Aber die Begegnung mit der inneren Wirklichkeit, der Zusammenprall mit dem Unbewussten, haben sich meinem Gedächtnis unverlierbar eingegraben. Ich kann mich nur aus den inneren Geschehnissen verstehen (...)“
(C.G. Jung)
Spätestens seit Surrealismus und Psychoanalyse streben Künstler danach, innere Bilder nach außen zu transportieren. James Webbs “Autohagiography” mit Audio-Aufnahmen des Künstlers bei einer ‚Rückführung’ mittels Hypnose und mit einer Chaiselongue, wie man sie sich in Sigmund Freuds Sprechzimmer vorstellt, bezieht sich am deutlichsten auf diese Tradition, aber auch Lucile Desamorys traumähnliche Installationen und Jakup Nedras „Trip“ kreisen um das Unterbewusste, um Fantasie, Erinnerung, Traum, ja wohl auch um Halluzination und Wahnsinn. Wie in einer gänzlich anderen Welt können im Zustand der Loslösung von Verstand und Wissen Vorstellungen und Wege erprobt werden, die in der „normalen“, der äußeren, Welt nicht erprobt werden können, weil Konventionen und (Selbst-)Beschränkungen aller Art das Individuum daran hindern.

Gerade Künstler empfinden diese gesellschaftlichen Einschränkungen als besonders stark und hinderlich für ihre künstlerische und persönliche Entfaltung. Alternativen zu den verstandesgesteuerten Prozessen, denen unsere Gesellschaft unterworfen ist und von denen sie in vordergründig geordneten Bahnen gelenkt wird, lassen sich in intuitiv entwickelten Konzepten, in poetischen Bildern und fantastischen Settings aufzeigen. Die nach außen getragenen inneren Bilder können als Wegweiser gelesen werden, die hinausweisen aus der alltäglichen Routine und als Angebot das Blickfeld zu erweitern.

Indem das Individuum als Teil und sogar als Mittelpunkt dieser Welt aufgefasst wird, wird das tiefste Innere des Menschen zur Quelle des Selbst und damit zum Ursprung der Welt. Innere Bilder werden zu einer Reflektion auf die äußere Welt und können den Blick auf diese entscheidend verändern.


Die Welt, die es zu bewohnen gilt

Art should be a trailer for the future.
(Jack Goldstein)

Auf denkbar unterschiedliche Weise beschäftigen sich Ulrike Möschel, Heike Gallmeier und Tolia Astakhishvili, David Hahlbrock, Franka Kaßner und Adriane Wachholz mit der Welt, in der sie – und wir – leben. So gegensätzlich ihre Positionen mitunter erscheinen mögen, so deutlich wird doch bei näherer Betrachtung das sie verbindende künstlerische Interesse, sich über die Auseinandersetzung mit dem Raum ein Stück von der sie umgebenden Welt anzueignen.

Der Wunsch, eine Veränderung – und sei sie auch noch so klein – zu bewirken, ist jedem Menschen zu eigen. Allzu oft jedoch scheitert die Befriedigung dieses Bedürfnisses an der unüberschaubaren Größe und Vielfalt der Aufgaben. Wenn Künstler sich nun mit dem konkreten, vorgefundenen Raum befassen, dann mag dies der Erkenntnis entspringen, dass letztlich jede Veränderung nur vom Individuum ausgehen kann, gemäß dem Slogan „Think global, act local“. Das Individuum seinerseits muss die ihm zur Verfügung stehenden, naturgemäß begrenzten, Mittel richtig anzuwenden wissen, um eine Veränderung der Umstände zu erreichen, so wie Herr Drchlik das Unterleghölzchen wirksam einzusetzen wusste.

Kennt man seine eigenen Fähigkeiten und Grenzen, ist Mitgestaltung möglich. Mitgestaltung wiederum ist eine Form der Kommunikation mit den anderen. Künstlerische Interventionen im Raum bringen Künstler und Betrachter einerseits und Betrachter und Betrachter andererseits miteinander in Kontakt. Die Grenzen zwischen Autor und Rezipient, Sender und Empfänger, lösen sich auf. So kann es die Bereitstellung einer bestimmten Konstellation, eines räumlichen Settings, einer Versuchsanordnung sein, die es erlaubt, bestimmte Orte oder Situationen zu beobachten und zu analysieren.

Begegnen sich die Beteiligten offen und mit der Bereitschaft, anders als gewohnt zu sehen und zu lernen, dann bietet sich ihnen nicht nur die Chance, die Begegnung zu genießen, sondern auch aus ihr persönlichen Nutzen zu ziehen und sich selbst womöglich gar das visionäre Denken zu erlauben.


Happy House

Das ist die Vision dessen, was Kunst leisten kann. Ist dies eine Utopie? Oder ist es möglich? Gilt es vielleicht nur seinen Blick auf die Welt zu verändern, um die Weltprobleme als leichte Schieflage unserer Perspektive zu entlarven, sie zu korrigieren und gemeinsam mit den anderen Weltbewohnern einfach glücklich zu sein, so wie es der Song „Happy House“ von Siouxsie &The Banshees zu verheißen scheint?

This is the happy house
we’re happy here in the happy house
oh it’s such fun.

We’ve come to play in the happy house
and waste a day in the happy house
 it never rains.

We’ve come to scream in the happy house
we’re in a dream in the happy house
we’re all quite sane.

This is the happy house
we’re happy here
there’s room for you if you say I do
but don’t say no or you’ll have to go.

We’ve done no wrong with our blinkers on
it’s safe and calm if you sing along.

This is the happy house
we’re happy here in the happy house
to forget ourselves
and pretend all’s well
there is no hell.

(Siouxsie & The Banshees, 1980)

LIDO 11
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30. September 2009

Ausgehen in London – eine Orientierungshilfe zur FRIEZE 2009


Barbara J. Scheuermann für Kunstzeitung, Oktober 2009

Der wilde Osten

Anders als in Basel, wo sich in der Messewoche alle Ausgehwilligen früher oder auch gerne sehr viel später auf der Kunsthallenparty zusammenfinden, haben die Besucher der „Frieze“ in London die Qual der Wahl: welchen der vielen angesagten Spots, deren Namen man mitunter verschwörerisch ins Ohr geraunt bekommt, soll man ansteuern, wenn man keine Lust mehr auf Messe- und Eröffnungstrubel hat, aber trotzdem noch Kunstdunst atmen will?

Die weniger Abenteuerlustigen folgen wohl den Galeristen ihres Vertrauens, vermutlich eher in Messenähe in den Westen Londons, zum Beispiel zur Bar im Dukes Hotel (St James’s Place, Postcode SW1), um dort einen der legendären Martinis zu nehmen, oder in die „101 Bar im Center Point (101 New Oxford Street, WC1).

Allen anderen sei der Weg ins East End ans Herz gelegt, denn nach wie vor tobt in Shoreditch, Bethnal Green, Dalston und drumherum das Leben, wie man es spätestens seit den Zeiten der YBA in den neunzigern von London erwartet, also gerne auch mal sehr schrill und sehr exzentrisch und oft einschüchternd cool.

Ein Klassiker für die Londoner Kunstszene ist das „St. John Bread & Wine Spitalfields” (94-96 Commercial Street, E1), wo man an blanken Holztischen zu gutem Essen vorzüglichen Wein trinken kann. Die Wahrscheinlichkeit, dass am Nebentisch gerade ein Vernissagendinner oder ein intimes Sammler-Künstler-tête-à-tête stattfindet, ist hier ganzjährig sehr hoch – unbedingt vorher reservieren! (Das gilt in London sowieso immer.)

Für die besser Betuchten empfiehlt sich auch das stilvolle „Hix Oyster & Chop House“ (36-37 Greenhill Rents, Cowcross Street, EC1), dessen Chef Mark Hix dieses Jahr zum ersten Mal auch auf der „Frieze“ seine Lieblingsgerichte servieren wird. Die etwas Sparsameren gehen zu einem der zahlreichen sehr guten Vietnamesen auf der Kingsland Road (hier werden unter anderem regelmäßig Gilbert & George gesichtet), zum Beispiel in das hervorragende „Song Que Cafe“ (134 Kingsland Road, E2).

Die Gegend mit dem Postcode E2 braucht man dann für einen Ausgehabend inmitten der Londoner art crowd nicht mehr zu verlassen – allseits beliebt bei Künstlern und Ausstellungsmachern ist die „Bistrotheque“ (23-27 Wadeson Street, E2), wo sich hippe Galerinas und Galerinos aus der nahegelegenen Vyner Street (auch ein Hot Spot! – besonders am jeweils 1. Donnerstag des Monats) zu Vernissagendinner oder After-Opening-Drinks treffen. Wer es schräg mag, sollte den im 18. Jahrhundert etablierten Pub „The Birdcage“ (80 Columbia Road, E2) ausprobieren oder das „George and Dragon“ (2 Hackney Road, E2), ein nicht weit vom Hoxton Square, gleich an der Shoreditch Church gelegenes Pub – hier gibt es bisweilen Ausstellungen auf der Toilette, und das stylishe, queere Partyvolk trinkt Bier aus Plastikbechern zu Pop und Disco der abseitigeren Sorte. 
 
Außerdem von vertrauenswürdigen und party-erprobten Londoner Künstlern, Kuratoren und Galeristen empfohlene Bars und Clubs: das „Savoy Cafe“ (240 Graham Road, E8), das unter anderem Performances und Interventionen veranstaltet, der hippe „Dalston Superstore“ (117 Kingsland Road, E8), für Fans neuer Musik jenseits des Mainstreams das „Cafe OTO“ (18 - 22 Ashwin Street, E8) und schließlich, noch etwas weiter im Norden, das kleine unprätentiöse „Bardens Boudoir“ (36 - 44 Stoke Newington Road, N16).

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20. Juli 2009

Martina Thalhofers fotografische Objekte


Barbara J. Scheuermann für den Ausstellungskatalog "Martina Thalhofer", Villa Oppenheim - Kleine Orangerie, Berlin 2009, mit Beiträgen von Christoph Tannert und Barbara J. Scheuermann

Wenn angesichts eines Kunstwerkes die Worte fehlen, dann ist dies meist ein gutes Zeichen, ein Ausweis seiner Qualität und Vielschichtigkeit. Martina Thalhofers Fotografien bilden da keine Ausnahme. Das Faszinierende an den geheimnisvollen Bildern der Künstlerin ist, neben ihrer außergewöhnlichen sinnlichen Qualität, ihre Offenheit und ihre Reichhaltigkeit an Bezügen und Assoziationen. Es ist nicht zuletzt auch diese Mehrdeutigkeit, welche die Fotografien zu Aufnahmen aus einem zeitlosen Raum macht, gleichsam zu Bildern aus einem Traum.

Formen gleiten ineinander, lösen sich voneinander und verbinden sich wieder. Besonders bei den Werken, die seriell angelegt sind, ist ein eigener, den Arbeiten innewohnender Rhythmus zu spüren, der die gesamte Komposition strukturiert. Frei vom Bestreben, den Körper als individuellen Ausdruck einzusetzen, führt die konsequente Reduktion des Figurativen auf die Abstraktion zu einem weiten Spektrum an Deutungsmöglichkeiten, die sowohl Assoziationen mit Architektur wecken können als auch an konstruktivistische Strömungen des 20. Jahrhunderts denken lassen. Vage bekannt erscheinen die organischen Formen und geben sich erst allmählich als Teile des menschlichen Körpers zu erkennen, denn Unschärfen und Spiegelungen machen es beinahe unmöglich, die einzelnen Formen zuzuordnen. Die transparente Blässe der Wachshaut schließlich, die als ein fein nuancierter Schleier auf den Bildoberflächen liegt, und die Rätselhaftigkeit der Motive selbst lassen die Fotografien als beinahe mystische Objekte erscheinen.*

In Martina Thalhofers Werken geht es nicht darum, Puzzle aus vertrauten Formen zusammenzusetzen; vielmehr führen Fragmentierung, Konstruktion und Montage zu etwas Neuem, ergeben eine ganz eigene Bildfindung und veranschaulichen, dass das Ganze mehr sein kann – und hier mehr ist – als die Summe seiner Teile. Dabei ist die Wahl des Sujets keinesfalls willkürlich, denn gerade die Spannung zwischen organischer Form und hochentwickelter Technik und die Demontage des Bekannten bis hin zur völligen Auflösung des Figurativen ins Abstrakte machen Martina Thalhofers Fotografien zu Schwellen, über die die Künstlerin die Betrachter einlädt ihr zu folgen – in einen Bereich, in dem Schönheit und ihre Dekonstruktion, Vertrautes und seine Verfremdung und nicht zuletzt die Feier des menschlichen Körpers und seine vollständige Fragmentierung in harmonischster Widersprüchlichkeit koexistieren können.

*“die durch die abstraktion erreichte verfremdung wird durch eine spezielle oberflächentechnik zusätzlich verstärkt. der auf eine trägerplatte kaschierte ausdruck wird mit einem silikonrahmen ummantelt und anschließend mit einer 5mm starken pigmentierten mischung aus verschiedenen wachsen und harzen überzogen. der zusammenstellung des materials und der auswahl der pigmente kommt bei der transparenz und der letztendlichen farbgebung eine zentrale rolle zu, der schärfebreich kann von fotorealistisch bis hin zu einer fast unsichtbaren anmutung des motivs variieren. im laufe der letzten jahre habe ich diese technik entwickelt und die beschichtung nun zu einem völlig glatten einschlussfreien auftrag ausgearbeitet.“ (Martina Thalhofer)

1. Juli 2009

Das Berghain in Berlin

Barbara J. Scheuermann für Kunstzeitung, Juli 2009

Die Welt bleibt draußen

Über keinen Club in Berlin spricht man zur Zeit soviel wie über das inzwischen legendäre, vor kurzem vom britischen Magazin „DJ Mag“ zum „besten Club der Welt“ gekürte „Berghain“, seit 2004 in der Wriezener Straße am Ostbahnhof in einem ehemaligen Heizwerk aus den 50er Jahren. Die niemals versiegenden Geschichten handeln, wie es sich gehört, allesamt um Sex und Drogen, und jeder, der es nach meist stundenlangen Wartezeiten schon mal durch die „härteste Tür Berlins“ geschafft und die gründlichen Leibesvisitationen überstanden hat, kann mitunter bizarre Geschichten von kopulierenden Paaren an der Bar oder seltsamen Begegnungen auf der Toilette erzählen.

Das „Berghain“, dessen Name sich aus den Namen der Berliner Stadttteile Kreuzberg und Friedrichshain zusammensetzt, besteht aus mehreren Bars auf drei Ebenen, zwei Dancefloors und verschiedenen Darkrooms. Zudem sieht sich der Club, der das Plattenlabel „Ostgut“ betreibt, auch noch als Kulturzentrum, in dem Lesungen und sogar klassische Konzerte stattfinden. Die Installation „Rituale des Verschwindens“ (2004) des polnischen Künstlers Piotr Nathan schmückt den Eingangsbereich, der Künstler Marc Brandenburg hat vor einigen Monaten eigens für diese „Kathedrale des Nachtlebens“ Fenster geschaffen, und natürlich dürfen auch die Fotografien von Stammgast Wolfgang Tillmanns nicht fehlen.

Wenn hier am Samstag ab Mitternacht - bis zum Sonntagabend! – über 1000 Menschen zu Techno-Beats toben, ist Fotografieren nicht erlaubt. Die Welt bleibt draußen. Vielleicht deshalb hat sich das „Süddeutsche Magazin“ kürzlich die Mühe gemacht, einen genauen Raumplan abzudrucken – für alle die, die niemals an dem wüst tätowierten und gepiercten und inzwischen auch schon legendären Türsteher Sven Marquardt vorbeikommen.

Das „Berghain“ ist also längst aus dem Underground im Mainstream angekommen, wird nicht nur in allen seriösen deutschen Tageszeitungen besprochen, sondern auch in jedem aktuellen Reiseführer erwähnt. Touristen aus aller Welt pilgern hierher und zittern beim Schlangestehen vor dem Moment, in dem der Türsteher darüber entscheidet, ob sie hineindürfen oder nicht (und allzu oft dürfen sie es nicht). Dabei sind die Auswahlkriterien anscheinend willkürlich, und es kann jeden immer treffen – ob schwul oder hetero, Berliner oder Tourist, Punk oder Popper. Das ist es, was gerade auch Künstler am „Berghain“ fasziniert: gesellschaftlich normierte Auswahlkriterien greifen hier nicht. Musiker, kaufmännische Angestellte, Künstler, Galeristen und Arbeitslose treffen sich hier und können für Stunden und ganze Nächte „vergessen, wer wir sonst sind“, wie es eine junge Berliner Künstlerin formuliert.

Womöglich unterscheidet dies das „Berghain“ von bekannten Künstlertreffpunkten früherer Jahrzehnte, in dem sich die künstlerischen Avantgarden trafen, wie den Cafés im Pariser Quartier Latin, den Pubs im Londoner Osten, Kippenberges SO 36 in Kreuzberg oder dem Ratinger Hof in Düsseldorf: im „Berghain“ gehen die Künstler wie alle anderen vollkommen in der Masse auf – von ihnen wird nichts anderes erwartet, als Teil der „crowd“ zu sein.
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30. März 2009

9. Sharjah Biennale 2009

Barbara J. Scheuermann für Kunstzeitung, April 2009

Unterstützung künstlerischer Produktion im arabischen Raum
Die 9. Sharjah Biennale
bis 16. Mai 2009

Keine Frage, Kunst aus dem arabischen Raum wird immer noch – oder mehr denn je – als schwer angesagter Trend gehandelt: das Museum of Modern Art, New York, war mit einem großen Aufgebot vertreten, und die Tate Modern hatte ihre Kuratoren gleich im Rudel geschickt – an den Eröffnungstagen der 9. Sharjah-Biennale Mitte März tummelte sich (gefühlt) mindestens die Hälfte der westlichen Kunstwelt in Sharjah und seinem Nachbaremirat Dubai, in dem zur selben Zeit die Kunstmesse Art Dubai stattfand.

Obwohl Sharjah als das konservativste der arabischen Emirate bekannt ist, fördert Sharjahs Oberhaupt Scheich-Sultan bin Mohammed Al Qasimi nun schon zum 9. Mal eine Biennale zeitgenössischer Kunst, als deren Direktorin Scheicha Hoor Al Qasimi fungiert. Daher verfügt die Biennale über ein Budget, von dem manch europäische Kunstinstitution nur träumen kann. Und so kann sie sich neben einem umfangreichen Begleitprogramm, das die mehrtägige Konferenz „March Meeting“ einschließt, auch ein ungewöhnliches kuratorisches Konzept leisten: Jack Persekian, ein in Ost-Jerusalem lebender armenischstämmiger Palästinenser und seit 2005 künstlerischer Leiter der Biennale, wollte vor allem ortsbezogene Werke zeigen: „Unser Anliegen ist es, künstlerische Produktion zu ermöglichen, besonders für Künstler der arabischen Welt, die es mangels Förderung oft schwer haben, ihre Projekte zu realisieren.“ 

Also veranstaltete Persekian eine öffentliche Ausschreibung – aus 250 Einsendungen suchten er und die beiden Kuratoren Isabel Carlos und Tarek Abou El Fetouh 29 Künstler aus und vervollständigten diese Auswahl um weitere 29 Künstler, darunter Ayse Erkmen und Lawrence Weiner. Auf ein Thema verzichtete das Kuratorenteam, um „vorschnelles Einordnen in thematische Schubladen zu vermeiden und den Betrachter nicht des eigenständigen Denkens zu entheben“, wie Persekian es ausdrückt. Sich selbst befreit der künstlerische Leiter damit, mehr oder weniger elegant, vom Anspruch der thematischen Kohärenz seines kuratorischen Konzeptes – ein durchaus legitimer Ansatz angesichts von Gemischtwarenladen-Biennalen mit übergestülpten Themen von fast beleidigender Beliebigkeit.

In den schwierig zu bespielenden Kojen des Kunstmuseums und auf dem umgebenden Kunst-Areal von Sharjah sind nun eine ganze Reihe schwacher Arbeiten zu sehen, manche sind für europäische Betrachter vor allem – oder nur – unter kontextuellen Gesichtspunkten interessant. Aber es gibt auch starke Arbeiten, darunter: eine begehbare Box, die Sufi-Meditationen erlebbar macht, von Hamra Abbas, die einen der fünf Preise der Biennale gewann, N S Harshas Flaggen-und-Nähmaschinen-Installation, Ayse Erkmens „korrigierter“ Raum, Nikolaj Bendix Skyum Larsens berührende Zweikanalvideo von indischen Gastarbeitern in Sharjah und ihren Familien in Goa und Sophie Ernsts wunderbare Videoinstallation „Home“, die eindrücklich persönliche und kollektive Erinnerung sichtbar macht.
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31. Januar 2009

Interview mit Michael Eissenhauer, Direktor der Staatlichen Museen zu Berlin für die Kunstzeitung, März 2009


Berlin, 30. Januar 2009


Nährboden für intelligente Ausstellungen
Generaldirektor Michael Eissenhauer im Gespräch über Forschung im Museum

Nach einer Schreinerausbildung, dem Studium der Kunstgeschichte, Archäologie und Deutschen Literaturwissenschaft sowie einem wissenschaftlichen Volontariat am Germanischen Nationalmuseum in Nürnberg war Michael Eissenhauer (geboren 1956 in Stuttgart) als Wissenschaftler am Deutschen Historischen Museum in Berlin und später als Kurator erneut am Germanischen Nationalmuseum tätig.
Von 1995 bis 2001 war er Direktor der Kunstsammlungen der Veste Coburg und von 2001 bis 2008 Direktor der Staatlichen Museen Kassel. Michael Eissenhauer ist seit 2002 Mitglied im Vorstand von ICOM Deutschland, seit 2003 Präsident des Deutschen Museumsbundes und seit 2004 Mitglied im Stiftungsbeirat der Kulturstiftung des Bundes.
Im November 2008 nahm Michael Eissenhauer seine Arbeit als Generaldirektor der Staatlichen Museen zu Berlin auf.


BS: Herr Eissenhauer, es fällt auf, dass Sie sich in Gesprächen zu Ihrer neuen Rolle als Generaldirektor der Berliner Museen immer sehr stark auf Ihren Vorgänger beziehen – was behalten Sie bei, was werden Sie anders als Peter-Klaus Schuster machen?

ME: Angesichts der Größe und der enormen Komplexität der Staatlichen Museen wäre es meiner Meinung nach Etikettenschwindel, wenn nun einer käme, der behauptete, er habe das Rad neu erfunden. Es kann höchstens eine Bestärkung von Aspekten geben, die schon da sind, und eine besondere Unterstützung derjenigen, die die kuratorischen Aufgaben innehaben.

Zu diesen Aufgaben gehören: Sammeln, Bewahren, Ausstellen. Nun geben die Staatlichen Museen in ihrer Broschüre zur Forschung im Museum „Forschen“ als zusätzliche Aufgabe an – aber ist im Museum nicht ohnehin das Forschen untrennbar mit dem Ausstellen, Sammeln und Bewahren verknüpft?

In Gesprächen sagen mir Museumsmitarbeiterinnen und -mitarbeiter immer wieder, man käme im täglichen Museumsgeschäft nicht zum Eigentlichen. Und dann frage ich natürlich, was wäre denn „das Eigentliche“? Und dann wird etwas beschrieben, das eher mit dem Studium im klassischen Sinne zu tun hat: nämlich Forschen im Sinne des Niederschreibens von Erkenntnissen, die sich aus einer abstrakten Beschäftigung mit Fragestellungen ergeben. Ich meine jedoch, Forschen im Sinne des Museums heißt, die Kenntnis über die Sammlung und über das Material zu vertiefen, also mit neuen Fragestellungen das bekannte Material zu betrachten. Forschung im Museum sollte sich nicht nur in Publikationen niederschlagen, sondern der Nährboden für intelligente Ausstellungen sein.
Forschen heißt für mich auch, das Bewusstsein dafür zu stärken, dass Provenienzforschung nicht nur als eine Reaktion auf das Washingtoner Abkommen zu verstehen ist, sondern dass es zu dem emanzipierten Selbstverständnis des Umgangs mit unseren Sammlungen gehört, die Provenienz der Stücke als Grundnotwendigkeit zu erkennen. Wir müssen eigeninitiativ arbeiten und nicht nur re-aktiv. Die Staatlichen Museen haben hierbei eine Vorbildfunktion.

Was gehen Sie selbst als erstes Projekt an?

Wir haben viel Arbeit nach innen zu leisten. Das Zusammengehörigkeitsgefühl muss in den nächsten Jahren wachsen. Es ist wichtig klarzumachen, dass wir neben der Museumsinsel noch ein zweites festes Standbein haben werden und zwar das Kulturforum, das kein Zentrum zweiter Klasse sein wird. Neben den Sammlungen des 19. und 20. Jahrhunderts machen es auch seine Architekturen und seine Platzierung in der Stadt zu einem Symbol, zu einem Denkmal des 20. Jahrhunderts.
In diesem Jahr ist das herausragende zentrale Schlüsselereignis die Wiedereröffnung des Neuen Museums im Herbst. Das bedeutet auch einen Epochenwechsel, denn erst damit ist die Kriegs- und Nachkriegsgeschichte auf der Museumsinsel abgeschlossen.

Nun haben Sie gerade die Forschung immer wieder als fundamentalen Schwerpunkt für Ihre Museumsarbeit betont – wie wird das sichtbar werden?

Von Anfang an hat dieser Museumsverbund eine Art Grundgesetz gehabt, in dem expressis verbis steht, dass ein wesentlicher Teil der Aufgabe der Mitarbeiter die Forschung ist. Schon vor 150 Jahren also wurde gefordert, was heute vermeintlich fürsorgliche Stadtväter und Kulturpolitiker anmahnen, nämlich, dass Museumsmitarbeiter auch forschen. Übrigens besagen die Statuten auch, dass diese Forschung nicht auf die Sammlung beschränkt sein muss, jedoch dass die Sammlung klar im Vordergrund stehen muss.
Wir intensivieren Programme, mit denen wir Wissenschaftlern den Austausch zwischen den Institutionen ermöglichen. Wir haben Kooperationsverträge zum Beispiel mit der Max-Planck-Gesellschaft geschlossen, wir pflegen ein Austauschprogramm mit China und dem Kunsthistorischen Institut in Florenz sowie Stipendienprogramme mit dem Metropolitan Museum of Art, New York. Das zeigt, dass wir auch Teil der internationalen Community sein wollen und einen Schwerpunkt auf Wissenstransfer legen.
Die Sammlungen der Staatlichen Museen zu Berlin sind so großartig und so tiefgründig verwurzelt in fast allen Aspekten, dass es möglich ist, aus diesen Sammlungen fantastische große Ausstellungen zu machen. Wir brauchen also nicht unbedingt importierte Blockbuster-Ausstellungen. Und ich möchte den Kollegen die Freiheit verschaffen sich mit den Sammlungen beschäftigen zu können.

Und wie gewährleisten Sie das?

Indem dies als Forderung formuliert ist.

An wen?

An die Sammlungsdirektoren und die Kollegenschaft. Unsere Sammlung altniederländischer Malerei beispielsweise ist eine der größten der Welt. Und diese Abteilung ist noch niemals mit einer Ausstellung in den Vordergrund getreten. Ein Modell für die Zukunft soll die Ausstellung sein, die mit dem Städel Museum in Frankfurt entstanden ist: „Der Meister von Flémalle und Rogier van der Weyden“ (Kulturforum Potsdamer Platz, 20. März – 21. Juni 2009).

Wie ist es denn um die finanziellen und personellen Ressourcen bestellt?

Natürlich wird die allgemeine wirtschaftliche Krise auch Auswirkungen auf uns haben, aber nicht so, wie wir das aus den USA oder Großbritannien hören. Als staatliche Einrichtungen sind wir in einer privilegierten Situation. Solange in der Gesellschaft ein Konsens besteht, dass man das kulturelle Erbe bewahren und pflegen muss, sehe ich uns nicht bedroht.

Welche Rolle spielt für Forschungsprojekte privates Sponsoring?

Für unmittelbar der Forschung dienende Projekte bekommt man sicher leichter Zuwendungen über Stiftungen und die öffentliche Hand. Es gibt aber auch Fälle wie den der Familie Oppenheim, mit deren Hilfe die Rekonstruktion der großartigen Bildwerke der Palastfassade von Tell Halaf aus dem ehemaligen Tell Halaf-Museum in Berlin durchgeführt werden konnte. Im November 1943 war die Fassade wie auch das von Max von Oppenheim gegründete Museum durch eine Fliegerbombe zerstört worden. Mit der Wiederherstellung der Bildwerke im vergangenen Jahr wurde mit Hilfe der Max von Oppenheim-Stiftung eines der größten Puzzles der jüngsten Vergangenheit erfolgreich beendet. Die spannende Entdeckung und Ausgrabungsgeschichte der Bildwerke, ihre schwere Beschädigung im Zweiten Weltkrieg und ihre Wiederherstellung werden 2010 im Mittelpunkt der Ausstellung „Abenteuer Tell Halaf Die Wiederentdeckung einer archäologischen Sammlung“ im Pergamonmuseum stehen.

Und abschließend: Welche Schwerpunkte wird es für die Gegenwartskunst geben?

Ich weiß, dass auch für Udo Kittelmann ganz klar ist, dass die Nationalgalerie mit ihren fantastischen Sammlungen nicht die Verpflichtung einer Kunsthalle hat. Die Nationalgalerie ist auch ein Ort der klassischen Moderne. Und was Udo Kittelmann sehr am Herzen liegt, ist, diese wieder ins allgemeine Bewusstsein zu rücken. Wir kennen ihn alle gut genug, um zu wissen, dass er sich die Zeitgenossenschaft nicht nehmen lassen wird. Und er und ich ziehen am selben Strang, wenn es darum geht, den Brückenschlag in andere Sammlungen hinein zu machen, zum Beispiel von der Nationalgalerie zur Gemäldegalerie, zum Kupferstichkabinett oder zum Kunstgewerbemuseum. Da wird sicher viel Spannendes kommen.
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